SAN ROMEDIO – die “Pilgerburg” im Nonsberg / Val di Non
21. November 2017 von Bernhard Baumgartner
18. Oktober 2017 – wir fahren von Proveis und Laurein kommend (den beiden hochgelegenen Bergdörfern im Deutschnonsberg) talabwärts auf den großen Stausee von San Giustina zu. Unvermittelt wechseln steile Waldhänge zu üppigen Obstterrassen, und in der Ortschaft Revo (von wo einst die Bauern ihr Vieh auf die Weiden von Proveis trieben) zweigen wir rechts ab (Richtung Madonna di Campiglio, so weit an der Südseite der Ortlergruppe sind wir schon!). Auf einer hohen Brücke wird der schluchtartige Zufluss des Noce (bedeutendster Nebenfluss der Etsch von Westen her) überquert. Leider gibt es keinen geeigneten Haltepunkt, und außerdem konzentrieren wir uns schon auf unser Ziel – die für uns unbekannte, aber hier äußerst bedeutsame Wallfahrtsstätte San Romedio.
Die Stadt CLES (früher Glöß) wird trotz einiger Sehenswürdigkeiten durchfahren, danach wieder die Noceschlucht bei der hohen Staumauer überquert. Navigation ist nun wichtig, um nicht die falsche Richtung zu erwischen – sonst würden wir auf der Autobahn nördlich von Trient landen statt über den Gampenpass zurück nach Lana zu fahren. Irgendein Glücksfall hat mich auf eine Besonderheit aufmerksam gemacht, die uns in SANZENO (eigentlich San Zeno, einem Kirchenpatron) erwartet.
So kann Anni die scharfe Abzweigung nach links erwischen, die uns auf den Vorplatz einer mächtigen Kirche bringt. Diese lassen wir aber vorläufig nur so nebenbei auf uns wirken, denn inzwischen ist schon Mittag längst vorbei, und Durst und Hunger überwiegen – also angenehme Pause auf einem Bankerl gegenüber der Basilika der hl. drei Märtyrer.
Die Geschichte dieser NONSBERG genannten Gegend am östlichen Gebirgsrand zwischen Ortler- und Brentagruppe reicht bis in die Antike (und sicher noch weit in die Frühgeschichte) zurück. So ist auf der “Tavola Clesiana” 46 n. Chr. von Kaiser Claudius den Bewohnern des Valli di Noce das Bürgerrecht verliehen. In Sanzeno gibt es überdies ein Museum über die Räter, einen Volksstamm der alpinen Ureinwohner. Zum Glück gibt es einen guten Kirchenführer (auf Deutsch), aber wie meistens (auch später in San Romedio) sollte man diesen vor Betreten des Heiligtums durchlesen, wozu aber die Zeit oft zu sehr drängt…
Die auf romanischen Bauteilen errichtete Kirche ist ein Werk der Gotik, der Barockaltar von 1771 passt sich überraschend harmonisch in den gegenüber dem Langhaus klein wirkenden Chor ein. Uns ist das Detail mit König David aufgefallen, der seine Harfe vor einer alpinen Landschaft zu schlagen scheint…
Rechts gelangt man in die “Kapelle der Märtyrer”, Rest der ursprünglichen Kirche und ehemalige Sakristei. Darunter wurden Begräbnisstätten aus römischer und altchristlicher Zeit entdeckt. Die “moderne” Ikone (1990) steht auf dem Sarkophag mit Erd- und verbrannten Knochenresten der Märtyrer, die im 4. Jahrhundert den (noch ungenügend bekehrten) Heiden zum Opfer fielen. Die Wände tragen wertvolle Fresken aus dem 12. Jahrhundert. Nach altem Brauch umrunden wir die Kirche mit ihrem freistehenden romanischen Turm und stoßen dabei auf die kunstvollen Reliefs, die durch die Waldschlucht bis zum Heiligtum San Romedio den Pilgerweg begleiten – der Jakobsweg ist uns schon vorher neben unserer Rastbank aufgefallen.
In der Ortsmitte von Sanzeno weisen Schilder die Zufahrt in eine enge Waldschlucht, und oberhalb der schmalen Seitenstraße verläuft in den Felswänden ein wohl überaus eindrucksvoller Steig auf der Trasse eines ehemaligen Bewässerungskanals – für diesen “Waalweg” reichte unsere Zeit nicht, so wie es uns oft geht, dass wir für einen weiteren Besuch noch immer reichlich Interessantes auf Vorrat hätten… Wir benützen das Auto daher auch bis zum Parkplatz, wo der Aufstieg zu San Romedio beginnt.
Beim Aufstieg auf dem mit Steinen gepflasterten und in steilen Stufen angelegtem Pilgerweg taucht dann unvermittelt – wie eine mehrstöckige Burg – das berühmte Nonsberger Heiligtum auf, leicht zu erkennen wie einzigartig sie auf einen hohen Felsen in der dunklen Schlucht getürmt ist und uns in der Nachmittagssonne entgegen leuchtet.
Durch das “äußere” Eingangsportal betritt man den Loggiahof des im 17. / 18. Jahrhundert großzügig angelegten Pilgerhospizes. Dort beginnen die endlos steilen, insgesamt 131 Stufen, die bis zur höchsten Spitze hinaufführen, zuerst noch am Hang eines Vorhofes, dann im Inneren des Bauwerks, das wir nun Schritt für Schritt erklimmen. Es wird hier schon ein Verhalten wie in einer Kirche erwartet – die etwa 250 000 jährlichen Besucher müssen zusätzlich auf ihr Handy verzichten (weil in der Schlucht zum Glück kein Empfang ist).
Schon beim “inneren” Torbogen befinden sich beiderseits zwei Kapellen, rechts die Georgs-Kapelle mit dem kleinen Märtyrer-Altar (siehe Sanzeno) und Fresken. Dann zieht die Stiege im Freien, an Stationen einer “Vita dolorosa” vorbei in den Hauptbau hinauf.
Das fast schwindelnd zu erklimmende Stiegenhaus ist über und über mit Votivgaben behängt – neben Ansichten von Romedius gibt es Danksagungen vor allem für Kinder, und immer wieder hängen hier “Trenschparterl” (wie bei uns die Babylatzerl heißen)! Weiter oben sind an der Decke Krücken gestapelt, von historischen bis zu aktuellen mit Plastikgriffen… All das weist auf die noch immer aktuelle äußerste Beliebtheit der Wallfahrtsstätte hin, die zwar ab dem 10. Jahrhundert ausgebaut wurde, aber schon auf ein vorchristliches Heiligtum zurückgeht – in all diesen Zeiten versammelten sich Menschen bei diesem einem Glockenturm gleichenden Felsgebilde inmitten der abgründigen Schlucht.
An der linken Seite öffnet sich nun die Kapelle des Erzengels Michael mit Barockaltar und Rankenmalerei im Gewölbe.
Aber es geht über die leicht gewendelte Treppe immer noch höher, am eigentlichen Heiligtum des Hl. Romedius vorbei, zu einem grandiosen Aussichtsbalkon hoch über der Schlucht.
Die “Große Kirche” des Hl. Romedius haben wir uns nach dem “Luftschnappen” hoch über der schon teilweise im Schatten versinkenden Schlucht für den Abstieg aufgehoben.
Durch dieses um 1200 errichtete Portal betritt man das “Herz der Wallfahrtsstätte”, in jüngerer Zeit freigelegte Fresken gehen ebenfalls auf die Zeit der Romanik zurück. Nun stehen wir auf der Spitze des Felsens, wo die Schüler des Hl. Romedius die alte Kirche auf den Grundmauern eine entweihten heidnischen Tempels erbaut haben sollen. Durch eine Art Lettnerwand abgetrennt befindet sich rechts die auf die Epoche um 1120 zurückgehende Reliquienkapelle, darüber ein Steinbaldachin, dessen Säulen Kapitelle in langobardischem Steil tragen. Reste aus den ältesten Zeiten sind auch Fresken mit u.a. dem Motiv “Kämpfende mit Meeresungeheuern”, alles symbolhaft und äußerst mystisch…
Nur schwer können wir uns von diesen Eindrücken trennen, denn wohl noch nie ist uns eine so überwältigende Kultstätte untergekommen – wenn auch gegenwärtig eher von regionaler Bedeutung im Trentino, hat sie doch in der Vergangenheiten zu den bekanntesten Pilgerstätten des Alpenraums gehört!
Als wir beim Abstieg wieder ins Freie treten, wandert das Sonnenlicht schon hinauf zum höchsten Turm von San Romedio, die Schatten treten aus den Schlünden hervor, und nur die letzten Strahlen fallen über den Felsrand herein.
Beim Abstieg und am Rückweg zum Parkplatz gibt es noch stimmungsvolle Blicke, dann ist San Romedio für uns schon Vergangenheit. Wir fahren durch die Schlucht hinaus nach Sanzeno zur Hauptstraße Richtung Gampenpass. Die Fahrt zurück nach Lana durch die abendlich leuchtende Landschaft passt abschließend bestens für diesen erlebnisreichen Tag in Nonsberg. Es hätte sich noch einige Male gelohnt, stehenzubleiben und zu schauen, gereicht hat es nur für diese alte Kirche (wohl nahe Fondo und auch nur wegen einer Straßenumleitung). Aber wenn wir uns wieder in Lana aufhalten oder eine Reise in die südliche Ortler-Adamello-Region machen, hierher kommen wir bestimmt wieder, und wenn es nur darum geht, den Felsenweg nach San Romedio zu bewandern…