Bernina – Marco Rosa Hütte – Piz Palü
3. Januar 2019 von Bernhard Baumgartner
Zuerst am Jahresbeginn ein Rückblick! Aus meinem Tourenbuch VIII von 1964 erinnere ich mich an die Hochtouren mit meinem damaligen Freund Ernst (Filzwieser) in die Bernina-Gruppe, zum am nächsten erreichbaren Viertausender….
Wenn man die Mitte der Siebziger überschritten hat, freut jede Wanderung und erst jede größere Tour umso mehr. Die Zeit der hohen Alpengipfel ist wohl ziemlich vorbei, aber vor einem halben Jahrhundert (!) schaute das noch ganz anders aus: Seit den letzten Jahrgängen in der Lehrer-Bildungsanstalt St. Pölten war ich mit meinem Freund Werner (Tippelt) klettern, immerhin sind uns da so klassische Touren gelungen wie die Hochtor-Nordwand, die Rosskuppen-Nordwestkante, ebenso jene des Ödsteins im Gesäuse und Südwandrouten am Admonter Kalbling. Die 1960er Jahre waren dann die Zeit der Hochtouren, von den Hohen Tauern (vor allem) bis zur Silvretta. Als ich in den 1970er und 80er Jahren mich immer mehr auch der Landeskunde und der Botanik zuwandte, meinte Werner einmal, ob ich schon auf die Umstellung meiner Touren vorausdenke, wenn´s mit dem Marschieren nicht mehr so toll geht… Immerhin haben wir durch die Ermunterung und Anleitung durch den befreundeten damaligen Gemeindearzt von St. Veit an der Gölsen, MR Dr. Otto Hausleitner, und in Begleitung von seiner Frau Monika auch ganz interessante naturkundliche und kulturelle Erfahrungen erleben dürfen. So, und nun blicke ich halt auf meine persönliche Alpingeschichte zurück – ein Höhepunkt war mit Werner die Durchsteigung der Pallavicini-Rinne am Großglockner mit Variante Nordpfeiler, noch dazu bei damals schon nicht zeitgemäßer Ausrüstung wie bloß Pickel und Eishaken zum Einschlagen!
Ein absoluter weiterer und wohl endgültiger Höhepunkt war die Bernina von 8. bis 18. August 1964, also heuer ein 55-jähriges Jubiläum und insofern für mich aktuell, als ich nun die damals fotografierten Farbdias eingescannt und ein ganzes handgeschriebenes Tourenbuch zum Nachlesen habe:
Anreise mit Nachtschnellzug von St. Pölten nach Landeck, Weiterfahrt mit Bus nach Schuls, Rhätische Bahn bis Pontresina. Abends von der Station Morteratsch mit 25 kg Rucksack (samt Gaskocher und Konservendosen) zur Boval-Hütte. Für uns sind die CAS-Hütten (Schweizer Alpenclub) eine ganz neue Erfahrung, über die Preise staunen wir sowieso, seit wir die Schweizer Grenze überschritten haben! Für Anfang August ist das Wetter ausgesprochen labil, wir müssen die Zeit mit Spaziergang am Morteratschgletscher und Versuch am Bovalgrat überbrücken. Aber am selben Tag, als wir die letztere Tour vormittags abbrechen, scheint sich das Wetter zu bessern, daher noch am Nachmittag Abmarsch über die Gletscherzunge mit ihren abschüssigen Moränenflanken in 2 1/2 Stunden zur Diavolezza mit Restaurant und Schutzhaus. Notiert – alles wahnsinnig teuer, Lagerplatz 5,50 statt 2,70 Franken auf Boval.
Bildtexte: Boval-Hütte mit Piz Bernina, weitere am Einstieg zum Fortezza-Grat
Dienstag, 11. August: Statt um 5 Uhr früh aufzubrechen, liegen wir unsere fünfeinhalb Franken noch ab, weil es draußen so scheußlich ausschaut! Als es um 7 Uhr unvermittelt aufreißt, kommen wir ganz schön ins Gedränge. So queren wir etwa den Persgletscher noch ohne Seil, obwohl dieser klüftig ist, wie wir es noch nie erlebt haben. Aber immerhin ist der Neuschnee hier noch fest gefroren, wechselt aber dann mit zunehmender Höhe in Pulver auf vereister Unterlage bzw. zu tiefer Stapferei bei der zunehmenden Tageswärme. Bis nach Mittag haben wir den Fortezza-Grat in wechselnd kombinierten Gelände hinter uns und rasten am Beginn der Bellavista-Terrasse (im letzten Bild zwischen den eisigen Bellavistaspitzen und den Eisbrüchen herab zum Morteratschgletscher). Nun geht es anstrengend spurend weiter, von der Terrasse (sie wird uns beim Rückweg mit noch mehr Tiefschnee plagen) hinab zum weiten Crast-Agüzza-Sattel auf 3604 m. Um halb vier Uhr kommen wir zur etwa ebenso hoch gelegenen Marco-Rosa-Hütte des CAI (Club Alpino Italiana): Wetter nun wieder schlecht, dichter Nebel, die winzige Hütte bummvoll… Sie steht über einer Felswand, wo der südliche Zustieg von der Marinelli-Hütte heraufkommt, und am Fuß des Aufschwunges zum Piz Bernina. Ob wir dort hinaufkommen werden? Noch schaut es nicht so aus, und tatsächlich müssen wir hier drei Nächte aushalten! Zur selben Zeit ist zwar die neue Campanna oberhalb schon in Bau, aber noch nicht benützbar, heute soll sie laut Internet relativ recht komfortabel sein.
Die hier unter dem Berninagipfel eingeschlossene Gesellschaft ist fast ein glücklicher Zufall, vor allem wegen einer Vereinsgruppe aus Vaprio d´ Adda mit ihrem Vereinsführer, mit dem tüchtigen Allesandro und den reizenden beiden “Bergkameradinnen” Lucia und Maria. Allerdings – wenn man kaum eine halbe Stunde beim Tisch sitzt und kaum gegessen hat, treibt Giovanni, der phänomenale Hüttenwirt, schon wieder zum Aufstehen, damit die nächsten Futterkandidaten Platz bekommen. Was wir die ganze Zeit gemacht haben, ist mir unerklärlich, natürlich mit den Italienern pallavert, eher international auf Englisch, Karten gespielt und gewartet, dass es schöner wird, damit wir vielleicht doch auf den Viertausender kommen und vor allem dass wir auch wieder über die Eisrouten nach Morteratsch absteigen können….
Donnerstag, 13. August: Endlich hat es aufgeklart, erscheint aber noch sehr unbeständig, immerhin sehen wir schon bis zum Monte Disgrazia (auf den vorigen Bildern). Also gibt es kein Zögern mehr, auch Maria, Allesandro und Lucia wollen auf den Gipfel, wir können es ohnehin nicht erwarten! Dabei passiert uns ein unangenehmer Fehler – statt mit dieser Gruppe die Originalroute zu gehen, wollen wir schon voraus und lassen uns beim ersten Felsaufschwung hoch oben rechts in die zunächst einladende Eisflanke verführen. Dabei ist ein kurzer Abstieg unter den Felsen in schlechtestem Eis noch das schwierigste Stück – zumindest in unserer Erinnerung, weil die nächste (wohl über 60 Grad steile) Eisflanke mit Sicherung durch zwei Eishaken dagegen schon halbwegs normal wirkt. Dann landen wir endlich gut auf dem italienischen Berninagipfel – “Punta Italia”, Spalla genannt (was wohl Schulter heißt), immerhin dem Gefühl nach waren wir auf einem Viertausender! Der anschließende Spallagrat hinüber zum Hauptgipfel ist derart verwächtet und mit Eis und Neuschnee überzogen, dass wir es mit der italienischen Gruppe halten und auf den endgültigen Gipfelsieg verzichten.
Zu den Bildern: Aufbruch von der Marco-Rosa-Hütte, das Gipfeldreigestirn Piz Zupo / Argient / Crast Agüzza, Lucia und Allesandro und Maria auf der “Punta Italia”, Abstieg mit Blick auf Bellavista-Terrasse und Piz Palü (unsere Route für den nächsten Tag).
Der Abstieg verläuft zwar mit Vorsicht wegen dem Neuschnee, aber doch problemlos. Unsere italienischen Freund/innen machen sich gleich an den Abstieg über die Wand hinunter, letztes Winken nach herzlichem Abschied, fort sind sie – plötzlich ist die Hütte wie leer… “Lucia, cara alpinista” steht in meinem Tourenbuch, ich habe ihr später von Bormio aus einen Blumenstrauß mit Fleurop schicken wollen und noch Neujahrsgrüße ausgetauscht… so war das vor über einem halben Jahrhundert… Schon wieder kommen Nebel und Schneefall, aber abends endlich die Nachricht per Funk, dass sie alle gut in der Marinellihütte angekommen sind und den argen Wandabstieg gut überstanden haben. Uns steht für den nächsten Tag noch die Tour zur Diavolezza auf der Schweizer Seite bevor…
Freitag, 14. August – Piz Palü-Überschreitung:
Ein Kaltlufteinbruch über Nacht vertreibt die üblen Wolken und bringt einen fantastisch klaren Tag, der für unsere weitere Tour nicht besser passen könnte. Zuvor noch eine Überraschung – unsere Rechnung von Mittwoch und Donnerstag hat der Signore Guide der Gruppe aus Vaprio d´ Adda für uns beglichen – italienische Gastfreundschaft auf fast 4000 m Höhe, ich hoffe, er hat über Lucia die Bilder von mir bekommen. Nun bleibt aber keine Zeit mehr – um 6 Uhr bereits Aufbruch von Marco-Rosa, durch den Crast Agüzza-Sattel und hinauf zur Bellavista-Terrasse, Wetter und Aussicht herrlich, aber Schinderei durch das Spuren im Tiefschnee, Spalten und Randklüfte sind teilweise wie verschwunden. Wahnsinnig viel Schnee, wechselt aber von windgepresst zu pulvrig, als wir zur Bellavista-Scharte kommen. Vor uns der Westgrat des Piz Palü, Spina genannt, total verschneit, verwächtet und vereist. Da haben wir einen glücklichen Einfall – wir queren an der Südseite bis unter den Hauptgipfel, allerdings sind schon mehr als vier Stunden vergangen! Mit viel Glück gelingt uns trotz Neuschnee und Vereisung der Felsen der Aufstieg zum Haupt- und Mittelgipfel des Piz Palü (3905 m), von dessen breiter Eiskalotte es bald scharf hinübergeht zum Ostgipfel, schon wieder zweieinhalb Stunden vergangen…. Von dort oben habe ich keine Aufnahmen (zumindest keine Farbdias, obwohl ich nach meinem Bildarchiv eigentlich mit einer zweiten Kamera auch sw fotografiert haben müsste).
Für den Abstieg haben wir nun eine gute Spur – unser Glück in den folgenden Gletscherbrüchen! Aber hier kommen eben die meisten Alpinisten von der Diavolezza herauf, unsere Vorgängen sind ein paar Bayern, die oben am Gipfel sogar Glühwein kochen. Hinab vom Ostgipfel brauchen wir sogar die Steigeisen, sonst haben wir die Überschreitung meinem Gefühl nach steigeisen- aber nicht seilfrei bewältigt. Die wildeste Stelle ist eine (sogar im letzten Bild erkennbare) Querspalte, die wir an einer abgespaltenen Eisrippe überaus steil abklettern müssen. Im folgenden Bruch notierte ich – riesige Spalten und Durchstiege, wie wir sie überhaupt noch nie erlebt haben. Entlang der Spuren finden wir aber auch dort gut durch und erreichen um halb fünf Uhr (nach dreieinhalb Stunden vom Ostgipfel) das Diavolezza-Restaurant. Nach Rast folgt dann: Abstieg Persgletscher – Isla Pers – Morteratschgletscher – Bovalhütte. wird wohl auch noch zwei Stunden gedauert haben, insgesamt also seit der Marco-Rosa-Hütte über 14 Stunden im hochalpin anspruchsvollen Gelände unter teilweise widrigen Verhältnissen. Kein Wunder, dass uns dann sozusagen der “Dampf” ausgegangen ist… Aber immerhin ist uns nach einem Schlechtwetter-Rasttag noch gelungen:
Sonntag, 16. August, Piz Morteratsch zur Tschiervahütte:
Der Biancograt auf den Piz Bernina, den wir vom Piz Morteratsch so schön gesehen haben, ist dann ein Traum geblieben. Die Tschiervahütte haben wir wegen des freundlichen Wirts in sehr guter Erinnerung. Im Gegensatz zu jenem auf der Bovalhütte, der wohl von führerlosen und teilweise selbstversorgenden österreichischen Alpinisten offensichtlich nicht angetan war. Dem Tschiervawirt verdanke ich eine alpine Weisheit – wenn er im Frühjahr auf die Hütte kommt, macht er lange Zeit keine schwere Arbeit bis er sich an die Höhe aklimatisiert hat, und das auf 2500 m! Die Bergsteiger sind ja voll wahnsinnig, meint er, wenn sie noch dazu aus dem Flachland kommend ohne solche Umstellung auf die Drei- und Viertausender steigen. Aber für uns sind das halt nur ein paar Tage, in Höchstbelastung und Hochstimmung, selbst nach 55 Jahren schwärmt man noch davon…
Die leicht abenteuerliche Heimfahrt: Das Schlechtwetter hatte danach dem schönen Spätsommer Platz gemacht. Wir erlebten so das Roseggtal hinaus nach Pontresina im schönsten Licht unter den strahlenden Gletscherbergen, wie ich sie 2002 bei einer Urlaubsfahrt mit Anni von Nauders (zu meinem Sechziger) aufnehmen konnte. Dann ging es mit der Berninabahn hinüber ins Veltlin, von Tirano mit dem Bus nach Bormio, Nächtigung in einem alten Hotel mit Schwertern und Wappenschildern an den Zimmerwänden – so richtig wie in der Rittersage des Dietrich von Bern (die auf Bormio / Worms bezogen wird). Kurios wir beide im Speisesaal, zehn Tage ungewaschen und bebärtet, die Tischnachbarn haben uns nur so angestaunt… Anderntags Weiterfahrt mit Bus über das Stilfserjoch mit seinen tollkühnen Kehren, aus dem obersten Vinschgau über Nauders nach Landeck und mit der Westbahn heim nach St. Pölten bzw. ins Gölsental, alles wirkte nun dort soooo flach….