St. Jakob in Kastelaz: Wandertipp als “Zeitreise” ins frühe Mittelalter
5. Dezember 2017 von Bernhard Baumgartner
Aus DUMONT Kunstreiseführer: Auf einem mit Reben bedeckten Hügel knapp oberhalb Tramins erhebt sich weithin sichtbar die Kirche ST. JAKOB IN KASTEL(L)AZ. Sie enthält den bedeutendsten Kunstschatz des Unterlandes: einen Freskenzyklus aus dem frühen 13. Jahrhundert, der mit seinen Bestiarien eine in den erhaltenen Wandmalereien der Romanik einmalige Darstellung besitzt.
Waren wir bei unseren zweimaligen Besuchen in Kastelaz (so die einheimische Schreibweise) schon überaus beeindruckt von den überwiegend gut erhaltenen Wandbildern, so hat die Deutung der teilweise obskur wirkenden Darstellungen (“Bestiarium” laut DUMONT) im dort aufliegenden Kirchenführer (Verena Friedrich / Kunstverlag Pada – Passau) mein äußerstes Interesse geweckt. Die Zusammenfassung in bezug auf unsere Bilder folgt nun:
Der unterste Bildstreifen (als eine Art “Bestiarium”) zeigt zwei Gruppen von Fabelwesen, getrennt durch freie Stelle des früheren Altars. Sie befinden sich sozusagen im Keller der Welt und wurden früher als Symbol für Bosheit und Genussucht interpretiert. Als Bildpredigten für des Lesens Unkundige – an erster Stelle stand die Warnung vor Fehlverhalten und dessen schädlichen Folgen. Die Mischwesen könnten auch die menschlichen Laster darstellen. Oder sie zeigen Vertreter jener geheimnisvollen Völker, die an den äußersten Grenzen der Welt siedelten und zu welchen die von den Aposteln (im mittleren Bildstreifen) verkündigte Lehre Christi (im Scheitel der Apsis) noch nicht vorgedrungen sei.
Das linke Mischwesen aus Mensch, Vogel und Fisch (durch die phrygische Mütze als heidnischer Bewohner der östlichen Erdgrenze erkennbar) besitzt unbändige Kräfte und kämpft gleichzeitig gegen einen Kentauren (Mischung aus Ross und Mensch, dieser versucht gerade eines der beiden Vogelbeine auszureißen) und gegen einen Bogenschützen (Fisch und Mensch), den er mit seinem Feueratem unschädlich machen will. Zudem hält er in der Rechten die gefürchtete indische Schlange Manticora, gegen deren Gift kein Kraut gewachsen ist. Welche Stellung der Hundsköpfige einnimmt (unheimlicher Kopf direkt auf dem Gesäß aufsitzend, dazu menschliche Beine in Strümpfen und Schuhen) bleibt offen…
Rechts von der ehemaligen Altarstelle treten als Nebenaktöre zwei Wasserschlangen auf, die eine wird von dem Hundsköpfigen (sogenannter Kynokephale, ebenfalls Vertreter eines sagenhaften Grenzvolkes) verschlungen, die andere doppelschweifige beißt den Delfinreiter in die Wade – warum? was dem mittelalterlichen Bildbetrachter sicher bekannt, wir wissen es nicht mehr (müssen sogar die Fachleute zugeben). Die Hundsköpfigen waren Halbmenschen, die sich zwar nur durch Bellen verständigten und von Fischen lebten, aber nach Meinung mittelalterlicher Theologen bekehrenswürdig waren.
Die beiden mittleren Gestalten des rechten “Apsiskellers” sind in ihrem Symbolgehalt verwandt: Die Fischfrau oder Sirene ist die Vertreterin der weiblichen, der Delfinreiter der Vertreter der männlichen Sexualität. Die Sirenen galten als Meisterinnen der Verführung, weshalb sie auch mit geöffneten Flossen dargestellt wurden (man denke an das Odysseus-Epos), die Meerjungfrau von St. Jakob hat die Flossen gekreuzt, vermutlich eine Aufforderung zur Selbstbeherrschung. Der durch eine später angebrachte Nische (ähnlich einem Sakramentshäuschen) beschädigte Schattenfüssler ist eine nicht deutbare Kuriosität, von der schon griechische und römische Geschichtsschreiber wussten. Am Rand der Welt daheim, hielt er der glühenden Hitze (der Sahara) stand, dazu diente ihm der einzige Riesenfuß, den er wie einen Sonnenschirm ausbreiten und auf dem er vor Feinden blitzschnell davonhüpfen konnte. Die Attacke eines gehörnten Wesens (ein Meeresnashorn?) scheint er noch nicht zu bemerken.
Auf dem Bild vorher ist schon die Figur an der rechten Seite der Apsis aufgefallen. Sie ist wie ihr Gegenstück an der linken Seite der Apsis sehr groß dargestellt und stark gekrümmt von der mit Kopf und Händen getragenen Last. Beide sind als Atlanten anzusehen und wurden als das aus dem Paradies vertriebene Stammelternpaar angesehen, allerdings nackt und in offensichtlich vorgerücktem Alter (im Gegensatz dazu wurden Adam und Eva nach dem Sündenfall stets bekleidet dargestellt).
Auch die mittlere Zone der Apsis ist noch nicht von Fabelwesen frei, denn oberhalb des (mit Schuhen versehenen!) Adams befindet sich eine verführerische Vogelsirene (in der griechischen Mythologie auch Totenengel), und oberhalb von Eva ist das männliche Pendant zur Sirene abgebildet – ein Ziegenfisch, dessen einziges langes Horn wohl die sexuelle Aggressivität darstellen soll.
Doch nun begeben sich die Bilddarstellungen schon in die eher menschlichen Sphäre, wenn auch in überhöhter Form der zwölf Apostel. Diese sind zu Paaren beiderseits des Apsisfensters (dieses diente früher als symbolischer Lichteinfall hinter dem Altar) aufgereiht, aber nicht in Art von Ikonen, sondern in lebhaftem Disput vertieft.
Die bekrönende Apsiskalotte ist der Majestät Gottes gewidmet, die alles Leben überstrahlt, dargestellt in aus byzanthinischen und frühromanischen Kirchen bekannter Art. Christus als Weltenherrscher auf dem Thron, seine gottgleiche Herrlichkeit durch die regenbogenfarbige Mandorla ausgedrückt, umgeben von den Evangelisten. Johannes der Täufer und die Gottesmutter Maria daneben sollen beim Weltengericht Fürbitte für die Menschheit leisten. Dies höchste Bildzone ist allerdings (im Gegensatz zur tiefsten) in einem eher schlechten Zustand erhalten. Eine ähnliche Darstellung findet man auch in St. Jakob in Grissian, während wir die “Bestiarien” auch in der romanischen Kapelle von San Romedio am Nonsberg gesehen haben.